Warum Game of Thrones nicht mehr überrascht - Eine Dramaturgische Analyse

Der erste Höhepunkt von Staffel 8 liegt mit Episode 3 nun hinter uns und hinterlässt einen faden Geschmack. Ich wage den Erklärungsversuch.

Warum Game of Thrones nicht mehr überrascht - Eine Dramaturgische Analyse

ACHTUNG: SPOILERS ARE COMING!

Seit dem 15. April läuft das unbestrittene Serienhighlight des Jahres: Die achte und finale Staffel der HBO Fantasy Serie Game of Thrones. Kaum jemand, der es nicht schaut, oder nicht zumindest schon davon gehört hat.

Die ersten beiden Folgen haben mit viel Ruhe und Gelassenheit die Figuren der Handlung weiter zusammengeführt und für den großen Showdown mit dem Nachtkönig in Stellung gebracht. Es war die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Doch damit ist nun Schluss. In Folge 3 „The battle of Winterfell“ erwartet uns die langerwartete Schlacht gegen den Nachtkönig und seine Armee vor den Toren der Stark-Heimat im Norden.

Die Folge zusammengefasst

Nachdem die Dothraki-Vorhut sich dezimiert zurückzieht stürmen die Toten auf Winterfell zu. Vor den Toren kommt es zum offenen Gemetzel. Der Gegner ist zahlenmäßig weit überlegen, trotz Reiterarmee und Unbefleckten. Über dem Schlachtfeld liefern sich nach einer Weile Daenerys und Jon ein Drachenduell mit dem Nachtkönig. Die Lebenden ziehen sich hinter eine brennende Barrikade und schließlich in die Festung zurück, aber der untote Drache Viserion reißt mit seinem Feuer ein loch in die Mauer, durch das die Toten eindringen. Arya demonstriert ihre Kampfkünste und flieht dann in die Burg, wo der Bluthund und Beric Dondarrion sie retten. Beric opfert heldenhaft sein Leben, um die kleine Stark zu schützen. Die zurückgekehrte Melisandre erklärt uns, dass genau dies Dondarrions Bestimmung war und erinnert Arya an die kryptischen Andeutungen, die sie bei ihrer letzten Begegnung gemacht hat. Ganz nebenbei zitiert sie noch Aryas alten Lehrer Syrio Forel.

Daenerys wird derweil von ihrem Drachen getrennt und wird von Jorah Mormont gerettet, der dabei sein Leben lässt. So langsam sieht alles nach einer Niederlage aus, als der Nachtkönig nun alle Gefallenen wiedererweckt und seine Armee damit erneut vergrößert. Mit seinen weißen Wanderern betritt er Winterfell und schließlich den Götterhain, in dem Bran nur noch von Theon Graufreud beschützt wird. Der geläuterte Eisenmann stürmt auf den eisigen Schurken zu, nur damit dieser ihn mit Leichtigkeit niederstreckt und schließlich Bran gegenübertritt.

Unter mitreißender Musik, die alles andere verstummen lässt sieht man die Unterlegenheit der Lebenden. Und gerade als der Nachtkönig sein Schwert ziehen will, kommt Arya aus dem Nichts angesprungen und rammt ihm ihren Dolch aus valyrischem Stahl in die Brust, woraufhin er, die weißen Wanderer und die gesamte Totenarmee das Zeitliche segnen.

Geradwegs voran

All dies ist definitiv, wie die gesamte Episode, spektakulär und bringt die Handlung in gigantischen Sprüngen voran, ja schließt sogar einen Großteil der Handlung bereits ab. Dennoch gibt es ein „aber“. Was bleibt, ist irgendwie der Geschmack, dass etwas fehlt. Game of Thrones war einmal dafür bekannt, nicht vorhersehbar zu sein. Dafür, dass man gerade nicht wusste, was als nächstes passieren wird. Wer sich an die rote Hochzeit erinnert, wird wissen wovon ich spreche. Dieses Schock-Ereignis am Ende von Staffel 3 war gewissermaßen der Höhepunkt des Unvorhersehbaren in der Serie. Und das bringt uns genau zum Kernpunkt dieses Artikels: dem Spannungsbogen von Game of Thrones.

Exkurs: Dramaturgie einer Geschichte

Zunächst einmal ein allgemeiner Spannungsbogen. Jeder hat vermutlich schon mal was von den drei Akten einer Geschichte gehört und sei es nur damals im Deutschunterricht in der zehnten Klasse.

So sieht die klassische Drehbuch-Dramaturgie aus. Drei Akte und zwei sogenannte Plot Points, also die Wendepunkte der Handlung.

Der erste ist meist der Austritt des Helden aus seiner gewohnten Welt, der Aufbruch ins ungewisse Abenteuer, gewissermaßen der Beginn der eigentlichen Geschichte.

Oftmals geht der Protagonist diesen Schritt nicht freiwillig, sondern wird in diese Richtung geschubst, so zum Beispiel Luke Skywalker im ersten Star Wars Teil, einem Paradebeispiel für die sogenannte „Heldenreise“ im Storytelling: Er ist nach seinem Treffen mit Obi-Wan sehr skeptisch, und möchte zunächst mit dem galaktischen Krieg, den Rebellen und Jedi-Rittern nichts zu tun haben. Aber dann wird sein zu Hause von den Sturmtruppen angegriffen und seine Familie getötet. Nichts hält ihn mehr an diesem Ort, den er mal seine Heimat nannte und so entschließt er sich doch, dem „Ruf des Abenteuers“ zu folgen -> 1. Plot Point.

Dann nimmt die Handlung seinen Lauf, man fragt sich als Zuschauer, wo die Reise hingehen wird, die Spannung steigt und dann, meist gegen Ende des zweiten Aktes kommt es zum zweiten Plot Point. Dieser ist i.d.R. weniger optimistisch als der erste. Meist befördert dieser Plot Point den Protagonisten (und den Zuschauer) an seinen tiefsten Punkt. Den Punkt, an dem man zunächst nicht mehr weiter weist, an dem alles verloren scheint. Bis der Held sich entschließt, all seinen Mut zusammenzunehmen, alles bisher Gelernte einzusetzen, sich wieder aufzurappeln und dann letztendlich zu siegen.

In Star Wars ist das der Tod von Obi-Wan auf dem Todesstern. Er war eine Vater-Figur für Luke, sein Mentor und Vertrauter, der den er immer um Rat fragen konnte und der ihm alles Unbekannte erklärt hat. Ohne ihn weiß Luke nicht, was er tun soll. Er ist an seinem tiefsten Punkt. -> 2. Plot Point

Ab diesem Punkt liegen aber meist auch alle Karten auf dem Tisch. Der Plan des Schurken ist offenbart und man fühlt sich diesem nun hoffnungslos ausgeliefert. Nun ist die Ausgangssituation und auch die Frage, worauf alles hinausläuft, beantwortet. Die Frage ist nur noch, ob der Held sich aufrappelt um es zu tun und ob er es letztendlich schafft.

Wie man sieht geht die Spannungskurve von hieran stetig und steil bergab. Das erscheint vielen (früher auch mir) etwas paradox, da man doch gerade gegen Ende eines Films das Gefühl hat, es würde immer spannender. Doch hier verwechseln wir oft Spannung mit Spektakulären Showdowns. Spannung meint in diesem Sinne nichts anderes, als das man nicht weiß, wie die Handlung im Großen und Ganzen weitergeht. Und der Punkt, an dem dies am stärksten ist, ist kurz vor oder kurz nach dem zweiten Plot Point, also quasi kurz bevor man endlich erfährt, was genau „der Bösewicht“ eigentlich vorhat oder anders herum, was genau die „Helden“ vorhaben, um seinen Plan zu vereiteln. Danach weiß man, was kommt: Der Showdown. Dann ist nur noch die Frage, ob Kopf oder Zahl, aber man weiß genau, dass eine Münze geworfen wird (schlechte Metapher, ich weiß). Das wars mit diesem kleinen Exkurs.

Zurück nach Westeros

Was hat das jetzt mit Game of Thrones zu tun? Gute Frage. Ganz so einfach ist es hier natürlich nicht, weil es sich a) um eine Serie bzw. Buchreihe handelt und b) der Buchautor George R.R. Martin und die Drehbuchautoren der Serie natürlich etwas kreativer/origineller sind, als die 1 zu 1 Story-Blaupause aus dem Dramaturgie Lehrbuch. Aber dennoch orientiert sich auch diese Geschichte an den Eckpfeilern des Konzepts, nur in etwas andersartiger Form.

Zwar hat jede Staffel (jeder Roman) hier seine eigene kleine Dramaturgie mit den genannten Punkten, aber auch im großen Handlungsverlauf der Serie sind die Säulen zu erkennen. Gewissermaßen hat jeder einzelne Handlungsstrang innerhalb der Serie seine eigene Dramaturgie.

Der erste Plot Point ist noch relativ klar zu identifizieren. Zu Beginn der ersten Staffel wird Ned Stark nach Königsmund gebeten um die Hand von König Robert zu werden (der „call for adventure“). Er lehnt zunächst ab („refusal of the call“), willigt aber schließlich doch ein, woraufhin er mit seinen Töchtern und Gefolge gen Süden aufbricht und Jon sich zeitgleich in Richtung Mauer verabschiedet, wo er sich der Nachtwache anschließen will. Die Stark Familie brich ins Abenteuer auf und mit ihr verstreuen sich die Handlungsstränge in ganz Westeros. Dieser Aufbruch ist der erste Plot Point, wie aus dem Bilderbuch.

Mit der roten Hochzeit wurde der erste riesige Handlungsstrang mit einem Paukenschlag beendet. Hier sieht man, wie bewusst mit klassischem Storytelling gebrochen wird um noch spannender zu sein und zu schockieren. Ähnlich war es in Staffel 1 mit dem Tod von Ned Stark.

Die Daenerys Story wurde aus Essos nach Westeros verlagert und nach dem Austausch von ein paar Schachzügen gegen die Lannisters mit der Nachtkönig Story von Jon verschmolzen. Auch Brans Einzelodysse kehrte zurück und schloss sich dieser Handlung an, ebenso wie Sansas und Aryas Handlungsstränge. Aus ganz vielen Geschichten wurde wieder eine einzige. Die vorher so vielschichtige Welt wurde übersichtlicher, sodass es ab Staffel 7 eigentlich nur noch 2 Handlungsstränge gab: Den Kampf gegen die Weißen Wanderer im Norden und den Kampf gegen Cercei Lannister im Süden. Doch wo war jetzt der zweite Plot Point?

Theorie und Praxis

Es gab nicht den einen zweiten Plot Point. Es gab mehrere, da die Handlung(en) ja auch auf so viele Orte und Figuren aufgeteilt ist. Tatsächlich aber behandelten beide ein und denselben Charakter. Den, der von da an der zentrale Protagonist und Held der Geschichte darstellte: Jon Schnee.

Der erste zweite Plot Point ist Jon Schnees vorläufiger Tod am Ende von Staffel 5. Der Zuschauer befindet sich hier in der „White Walker“-Storyline (die ja später die zentrale wird) an seinem tiefsten Punkt. Derjenige, der diese Bedrohung die ganze Zeit über am meisten ernst nimmt, der die Lächerlichkeit des menschlichen Gezänkes um Thronansprüche erkennt, stirbt. Und mit ihm die Hoffnung, dass das ganze ein gutes Ende nehmen könnte. -> Tiefster Punkt

Der letzte große Plot Point offenbart sich eine Staffel später. Bran wird zum drei-äugigen Raben ausgebildet und findet etwas heraus. Etwas, dass alles verändern wird. Unser Bild von Jon Schnee, genauso wie die Zukunft von Westeros: Jon ist nicht Ned Starks Bastard sondern der Sohn von Rhaegar Targaryen und Lyanna Stark, wie viele Hardcore Nerds es aufgrund kleiner Andeutungen in den Büchern schon seit Jahren vermuteten. Mit dem Blut der Starks und Targaryens in den Adern ist er das personifizierte Lied von Eis und Feuer. Dies offenbart in diesem Moment auch seine wahre Bestimmung und deutet an, in welche Richtung es seine Figur ziehen wird. Und genau seit diesem Punkt ist Game of Thrones nicht mehr überraschend. Außer in so Mini-Kleinigkeiten, zum Beispiel wer letztendlich den Nachtkönig tötet.

Der dritte Akt einer ganzen Serie

So, ich weiß, dass war jetzt eine ganz schön umständliche Herleitung, aber man will ja schließlich auch was lernen. Worauf ich hinaus möchte, ist eigentlich ganz simpel. Seit dem Beginn von Staffel 7 befinden wir uns um dritten Akt der ganzen Serie. Und im dritten Akt passieren keine allesverändernden Twists mehr, die Handlung wird nicht plötzlich in eine völlig andere Richtung gelenkt, Figuren drehen sich nicht mehr um 180 Grad. Die Karten liegen offen und werden nun nacheinander von der Hand gespielt. Wäre Game of Thrones ein einziger Film, befänden wir uns jetzt in den letzten 25 Minuten, also z.B. beim finalen Angriff auf den Todestern in Star Wars. Es ist nur noch die Frage: Schaffen sie es oder schaffen sie es nicht? Oder vielleicht ist die Frage auch noch: Wie genau, also auf welche Art und Weise schaffen sie es, wer stirbt dabei und wie genau geht es am Ende aus?

George R. R. Martin, der Autor der Buchreihe „Das Lief von Eis und Feuer“, auf der die Serie basiert, hat oftmals bewusst mit diesen Handlungsstrukturen gebrochen und ganze Handlungsstränge antiklimaktisch, also ohne richtigen Höhepunkt, abrupt enden lassen. Der Leser sollte denken, er würde hier DEN Haupthandlungsstrang der ganzen Serien verfolgen, wurde aber in die Irre geführt. Die Tatsache, dass wir uns im letzten Abschnitt der Handlung befinden ist ein Faktor, der erklärt, warum es keine Wendungen und Twists mehr gibt, aber längst nicht der einzige. Seitdem die Serie die Bücher endgültig überholt und Martin sich aus der Serie zurückgezogen hat, ist diese Entwicklung deutlich stärker geworden und immer mehr Hollywood Elemente haben den Weg nach Westeros gefunden. Das werde ich allerdings in einem weiteren Artikel thematisieren.

Und bei allem Besserwissen, dass ich hier von mir gebe, die letzten, oben genannten Fragen kann natürlich niemand beantworten. Man kann die Möglichkeiten durchspielen. Werden Jon und Daenerys das neue Königspaar und vereinen Westeros unter gerechter Herrschaft? Kommt es doch noch zum Konflikt zwischen den beiden? Wie viele geliebte Figuren werden Cercei und ihre Armee noch mit in den Tod reißen? Wie viele werden am Ende noch übrig sein? Aber das es zum finalen Kampf gegen den Nachtkönig kommen musste, den eine Partei gewinnt und die andere verliert, ist klar gewesen. Hoffnungen, dass dies erst später passiert und die größte Bedrohung der Menschheit sich auch dem Namen entsprechend anfühlt, wurden leider enttäuscht. Die Klarheit darüber, wo die Handlung hinführt ist auch beim letzten Handlungsstrang gegeben: Dem Kampf gegen die Streitmacht von Cercei Lannister und Euron Graufreud. Aber die Zeit der wirklich großen, unvorhersehbaren Wendungen ist denke ich vorbei.